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Eine Hochzeit in Fès und das Protektorat

Babi: "Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde Marokko von der Alaouiten-Dynastie regiert, die ursprünglich aus dem Tafilalet stammte. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts kam es hin und wieder vor, dass sich einige mächtige Stämme, die etwas weiter von Fes entfernt waren, gegen die Machthaber auflehnten.


"Um sich gegen diese Rebellen zu schützen, wandte sich der Sultan oft an seine Landsleute aus dem Tafilalet. Er schickte einen Brief an seinen lokalen Vertreter und bat ihn, 100 oder 200 junge Männer in die Hauptstadt zu schicken, um seine Armee und die Palastwache zu verstärken. Damals war es für einen jungen Filali eine Beförderung und eine große Ehre, nach Fes zu kommen und am Hof des Sultans zu arbeiten.


Eine solche Situation ereignete sich um 1895. Im Dorf wurde das Los gezogen und mein Großvater, der kaum 16 oder 17 Jahre alt gewesen sein dürfte, wurde ausgewählt, um in Fes am Hof des Sultans zu arbeiten, zusammen mit einem ganzen Kontingent von Cousins und anderen Jugendlichen aus dem Dorf. Er war begeistert davon. Seine Familie war jedoch besorgt, ihn allein gehen zu lassen, und hatte beschlossen, dass er unbedingt heiraten müsse. Also suchte man unter den Cousins auf beiden Seiten der Familie und fand die Frau, die meine Großmutter in Fes werden sollte.


Fes, Tanz auf einer Hochzeit


1895 heirateten also in Fes mein Großvater und meine Großmutter, zwei einander fremde Menschen. Die gesamte Familie meines Großvaters war in die Hauptstadt gekommen, um die Hochzeit zu feiern, und hatte ein Grundstück an der Palastmauer gekauft. Das junge Paar bekam bald drei Kinder: zuerst einen Sohn - meinen Vater - und dann zwei Töchter.


Das Leben ging ruhig weiter, bis im April 1912 zwei Ereignisse unabhängig voneinander eintraten, die beide das Schicksal meiner Familie veränderten. Das erste war die Unterzeichnung des Protektoratsvertrags mit Frankreich. Das zweite war der plötzliche Tod meines Großvaters, der gerade einmal 30 Jahre alt war und wahrscheinlich an einem Herzinfarkt starb. Er starb innerhalb von 24 Stunden.


Fast sofort wurde der Sultan, der die Protektoratsakte unterzeichnet hatte, von der einheimischen Bevölkerung abgelehnt und abgesetzt, und es kam zu dem, was man damals verharmlosend als "Unruhen" ("des troubles") bezeichnete. Die Franzosen, die Algerien seit 1835 besetzt hielten und somit erfahrene Kolonialherren waren, hatten einen Plan zur Eroberung des Landes ausgearbeitet.


Sie eroberten zunächst die gesamte marokkanische Küste, die für sie wegen der Phosphatvorkommen und anderer wertvoller Ressourcen den interessantesten Teil des Landes darstellte. Anschließend belagerten sie die "schwierigen" Regionen, insbesondere das Tafilalet, eine Bergregion, die von unabhängigen und rebellischen Stämmen bewohnt wurde. Diese Belagerung dauerte lange, so lange, dass die Kolonialisierung in Marokko zwar 1912 begann, im Tafilalet aber erst 1935 richtig einsetzte. Man muss dazu sagen, dass der Krieg von 14-18 die Franzosen in der Zwischenzeit sehr beschäftigt hatte und ihre Kolonialisierungsbemühungen verlangsamte.


Also da war meine Großmutter im Jahr 1912, noch sehr jung, Witwe mit drei kleinen Kindern, die in ihrem Haus in Fes auf sich allein gestellt war, weil sie nicht zu ihrer Familie nachkommen konnte, die im Tafilalet belagert wurde. Sie lebte in den ersten Jahren des Protektorats in großer Armut, schaffte es aber, ihre drei Kinder großzuziehen, da sie eine sehr harte und mental starke Frau war.


Die Situation verbesserte sich ein wenig, als mein Vater 16 Jahre alt wurde. Er arbeitete dann im Krankenhaus von Fes, zunächst als Lehrling, dann als ausgebildeter Krankenpfleger, bis er 1924 seinen Führerschein machte und Rettungssanitäter wurde. Damals gab es in ganz Fes nicht mehr als 15 Autos. Einen Führerschein zu besitzen war also etwas Außergewöhnliches, so wie heute Astronaut zu sein!

Mein Vater, Jelila Dahbi, rechts auf dem Foto, in seiner Krankenpflegeruniform

Rose & Babi

©2023 Hind Dahbi-Flohr

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